Langdrehen – eine Historie Drehen mit beweglichem Spindelstock

Von Anne Richter

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Kaum ein Verfahren ist so sehr mit der Schweiz und Schweizer Präzision verknüpft wie das Langdrehen – weit über die Landesgrenzen hinaus. Im Englischen ist deshalb auch von «Swiss-type turning» die Rede. Kein Wunder, denn die Geschichte des Langdrehens ist eng verbunden mit der Herstellung von Uhren, Schweizer Exportgut par excellence.

Das Stangendrehzentrum Swissdeco 36 TB von Tornos vereint die beiden Technologien Kurz-und Langdrehen auf einer Maschine.
Das Stangendrehzentrum Swissdeco 36 TB von Tornos vereint die beiden Technologien Kurz-und Langdrehen auf einer Maschine.
(Bild: Tornos)

Es gibt bestimmte Produkte, die weltweit mit der Schweiz verbunden werden und einen ausgezeichneten Ruf geniessen. Vor allem Schweizer Uhren, Schweizer Käse oder auch Schweizer Schoggi haben sich rund um den Erdball einen Namen gemacht und stehen bei Schweiztouristen hoch im Kurs. Doch nicht nur Consumerprodukte, sondern auch Schweizer Maschinen und Werkzeugmaschinen sind international ein Symbol für hohe Präzision und Qualität. Und es gibt ein Verfahren, welches quasi die Schweizer Fertigungstugenden verkörpert: das Langdrehen. Viele Begriffe gibt es für das Langdrehen. In der Schweiz beziehen sie sich vor allem auf die Ursprünge in der Westschweiz. Automatendrehen ist ein oft gebrauchter Begriff, eine Verkürzung des französischen «tour automatique à poupée mobile», also des Automatendrehens mit beweglichem Spindelstock. Das Wort Décolletage hat sich dagegen als Begriff für verschiedene Drehbearbeitungen durchgesetzt. Im englischsprachigen Ausland verzichtet man auf die feinen Unterschiede. Der Begriff «Swiss-type turning» steht für das Langdrehen, mit «Swiss-type automatic lathe» ist ein Langdreh­automat gemeint.

Interview mit Francis Koller
interview

SMM: Langdrehen ist ein Fertigungsverfahren, das eng mit der Schweiz verknüpft ist. Was sind die Ursprünge?

Francis Koller: «Langgedreht» wurde schon auf manuellen Drehbänken, was typisch ist für die Schweiz ist wie das automatische Langdrehen. Der Ursprung ist bei der Herstellung von Schräubchen für die Uhrmacher zu suchen. Obwohl die Firma Laubscher schon 1846 Schrauben lieferte, wurden diese noch manuell fabriziert. Erst 1872 scheinen die ersten Langdrehautomaten entstanden zu sein. Unsere Quellen nennen klar den Baselbieter Jakob Schweizer als Erfinder der Kombination beweglicher Spindelstock und Führungsbüchse auf einer durch Kurven automatisierten Maschine.

Was denken Sie, wieso gerade in der Schweiz dieses Verfahren entwickelt wurde?

F. Koller: Wir Schweizer waren nicht immer die Ersten im Erfinden, aber wir haben einiges klar verbessert, was andere erfunden haben. Die erste Drehmaschine für Metall ist auf Maudsley zurückzuführen, so wie die Schokolade als solches nicht in der Schweiz erfunden wurde, aber die Milchschokolade den Markt auf den Kopf gestellt hat. Nach diesen Beispielen können wir an die Uhrenfabrikation denken. Der Legende nach soll Daniel Jeanrichard die Uhr eines englischen Touristen repariert und so angefangen haben, eine Uhr selber herzustellen. Dies hat danach die Uhrenfabrikation in die Schweiz gebracht. Sobald diese Fabrikation grösseres Volumen an Schrauben benötigte, wurden auch Lösungen gesucht, um zu rationalisieren. Der Langdreh­automat, bald «Schraubenautomat» genannt, war eine der Lösungen. Auch in den USA wurden automatisierte Drehmaschinen konstruiert, ziemlich zur selben Zeit, aber den beweglichen Spindelstock haben sie damals nicht angewendet.

Welche Rolle spielte dabei die Konkurrenzsituation von drei Herstellern in Moutier?

F. Koller: Einen stetigen Kampf, um Kunden zu gewinnen. Dies führte zu Entwicklungen wie z. B. von Zusatzapparaten, die zusätzliche Arbeitsschritte ermöglichten. Sehr rasch nach der Erfindung wurden die gedrehten Schauben nach dem Abstechen durch einen Apparat geschlitzt. Aber noch Weiteres kam dazu, an jeder wichtigen Ausstellung wollten die Konkurrenten zeigen, was in der Zwischenzeit entwickelt wurde. Dazu kommt noch der Wunsch, immer schneller zu produzieren, dies wirkte sich z. B. auf die Spindel aus und parallel dazu musste noch genauer gearbeitet werden, Präzision war da das Thema. Auch die Spannvorrichtungen wurden verbessert, die Führungsbüchsen und deren Halter ebenfalls.

Was bedeutete der Patentschutz für die Unternehmen? Wie hat das Auslaufen des Patentschutzes die weitere Entwicklung beeinflusst?

F. Koller: Da der Patentschutz in der Schweiz erst 1880 möglich war, wurde die Grundidee des Langdrehers nicht geschützt. Aber es gibt ein Patent von Niklaus Junker für die Wippe, der auf einer Achse wippende Werkzeughalter, der sozusagen zu einem festen Bestandteil der Langdrehautomaten wurde. Danach wurden sozusagen alle Entwicklungen, auch im Ausland, patentiert. Interessanterweise haben sich zwei der drei Fabrikanten an dasselbe Patentbüro adressiert und jahrelang durch diese Anwälte die Erfindungen schützen lassen. Teilweise kamen auch Erfindungen von Kunden zum Zuge. Erwähnenswert ist in diesem Rahmen das Patent eines belgischen Kunden, welches übernommen wurde, um die Spindelnase mit einem einstellbaren Nadel-Lager zu versehen.

Inwiefern haben ausländische Unternehmen die Entwicklung des Langdrehens beeinflusst?

F. Koller: Eigentliche Bedeutung haben ausländische Fabrikanten erst durch die Einführung der numerischen Steuerung. Ein japanisches Patent hat dieses Thema eröffnet, aber erst die Präsentation eines französischen Fabrikanten hat auch Moutier wachgerüttelt.

Welche Bedeutung hat das Langdrehen in der heutigen Zeit?

F. Koller: Das Automatendrehen ist ein wichtiger Industriezweig in der Schweiz. Hunderte von Unternehmen, in der Regel in Familienbesitz, entwickeln Fähigkeiten, um den Anforderungen der Herstellung von kleinen und hochpräzisen Teilen gerecht zu werden. Die Miniaturisierung moderner Komponenten für die Bedürfnisse der Uhren­industrie, der Medizintechnik, des Automobilbaus, der Luftfahrt, der Verbindungstechnik und vieler anderer Bereiche machen diese Industrie unentbehrlich und dazu bestimmt, sich weiterzuentwickeln.

Wohin geht die Entwicklung Ihrer Meinung nach?

F. Koller: Die vierte industrielle Revolution steht am Horizont unter dem Namen «Industrie 4.0». Jetzt ist die Digitalisierung an der Reihe, um die Branche langfristig zu verändern. Dank des technologischen Fortschritts wird die industrielle Produktion eine neue Dimension erreichen. Die Interaktion zwischen Mensch und Maschine wird anders ablaufen. Die Schweizer Hersteller von Drehautomaten haben diese neue Situation vorweggenommen und bieten bereits hoch innovative Produkte in dieser Richtung an. Viele Automatendrehereien haben ihre Produktionswerkstätten bereits so strukturiert, dass sie diesen neuen Anforderungen gerecht werden. Die Akteure der Schweizer Wirtschaft sind bereit.

Sie sind Präsident des Museums «Tour automatique et d’histoire de Moutier». Was erwartet den Besucher hier?

F. Koller: Besucher aus der Welt der Industrie können sich freuen, das erste Jahrhundert der Geschichte des Drehautomaten zu entdecken, ungefähr von 1870 bis 1970. Das professionelle Team des Museums steht bereit, um den Besuchern etwa hundert Drehautomaten vorzustellen, die für diese Epoche repräsentativ sind.

Die Anfänge der Langdrehautomaten

Doch zurück zu den Anfängen in der Westschweiz, genauer gesagt nach Moutier im Jura bernois. Die Erfindung der Schweizer Drehautomatik wird Jakob Schweizer zugeschrieben, einem im Berner Jura ansässigen Uhrmacher, der seinen Lebensunterhalt zunächst mit der Herstellung von Uhren verdiente. Zu dieser Zeit wurden die Uhrenschrauben mühsam Stück für Stück auf kleinen Uhrmacherdrehbänken mit manueller Steuerung und der Uhrmacherlupe gefertigt. Die Grundidee war eine Komplettfertigung der Uhrenschrauben mit gezogenen Messingstangen und dem Drehen des Schraubenhalses. Daher kommt auch der Begriff Décolletage, er leitet sich vom französischem Wort «collet» ab, das für Kragen oder Hals steht.

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Bereits 1872–1873 entwickelte der Wegbereiter und Langdreh-Pionier in Biel seinen ersten Prototyp eines kurvengesteuerten Langdrehautomaten für den Eigenbedarf. Schon die erste Maschine enthielt eine geniale Erfindung, den beweglichen Spindelstock. In diesem Fall handelt es sich um eine Vorrichtung, die der Maschine die simultane Drehbewegung des Materials mit dem Verfahren in die Längsrichtung erlaubt. Bis heute können selbst modernste CNC-Maschinen nicht auf diese Lösung verzichten. Die radialen Werkzeughalter konnten einfache Einstechbearbeitung durchführen.

Die eigentliche Industrialisierung begann um 1880, als sich der Deutschschweizer Mechaniker Nicolas Junker in Moutier niederliess mit dem Ziel, Schrauben und Ritzel für die Uhrenindustrie in einer effizienten Weise herzustellen. In der Folge stattete Junker die Maschine mit verschiedenen Verbesserungen aus. Dazu gehört insbesondere der Kombiapparat für Gegenbearbeitungen, radiale und vertikale Werkzeuge und auch ein einfaches Stangenvorschubsystem. Am sternförmigen Aufbau der Bearbeitungsfläche des Drehautomaten hat sich in den folgenden Jahrzehnten nicht viel geändert. Auch die Technologie des beweglichen Spindelstocks ist im Zeitalter der CNC-Maschinen Standard. Die Junker-Fabrik wurde nach einigen Namens­änderungen als Tornos Fabrique de Machines Moutier SA neugegründet. Das Produktionsprogramm umfasste auch die Herstellung von Dreh­automaten mit dem Schweizer-Junker-System. Nach verschiedenen Verbesserungen erschienen 1969 erste Mehrspindelmaschinen und etwas später automatische Stangenlader.

Im Jahr 1904 schloss sich Joseph Petermann, ein Hersteller von Uhrmacherstempeln, mit dem Techniker André Bechler zusammen. Unter dem Namen Bechler & Cie begannen die beiden Partner mit der Entwicklung von Drehautomaten nach dem Schweizer-Junker-System. André Bechler hat das System weiter perfektioniert, indem er eine Wippe hinzufügte, Pendelträger für zwei gegenüberliegende Werkzeughalter, die auf beiden Seiten der Spindelachse angeordnet sind und abwechselnde Bearbeitungsvorgänge mit einer einzigen Kurve durchführen. 1914 trennte sich André Bechler von Joseph Petermann, begann mit der Herstellung von Dreh­automaten in Eigenregie und gründete die Firma Fabrique de machines André Bechler SA.

Zwei neue Berufe: Décolleteur und Kurvenscheibenmacher

Die Maschinen waren damals über Nockenwellen gesteuert, die über verschiedene Hebelbewegungen die beweglichen Teile der Maschine angetrieben haben, wie zum Beispiel den beweglichen Spindelstock, Wippe, Schlitten, den Kombiapparat und weitere. Dies führte zur Entstehung neuer Berufe. Der Décolleteur, auch Automatendreher genannt, war verantwortlich für das Bedienen und Einstellen der Maschine. Der Kurvenscheibenmacher oder -berechner war ein Spezialist, der über sehr gute Geometrie-, Trigonometrie- und Mathematikkenntnisse verfügen musste, um die Kurvenscheiben berechnen zu können. Für jedes auf Drehautomaten zu fertigende Werkstück musste ein Kurvenscheibenspiel erstellt und auf der Maschine montiert werden. Das alles war sehr aufwändig, oft mussten die Kurvenscheiben nachbearbeitet und neu montiert werden. Die Langdrehautomaten waren für die Fertigung von grossen Serien ausgelegt, wie sie in der Uhrenindustrie gefordert wurden. Die Inbetriebsetzung der Maschine und der Rüstaufwand haben sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Es beinhaltete die Berechnung, das Vorzeichnen, Anzeichnen und die Fertigung eines kompletten Kurvenscheibenspiels.

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