Industrialisierung der Schweiz Hochspannung, Hustensirup und Hotelpaläste

Von Clemens Fässler

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Die Gründung des SMM fiel in eine bewegte Zeit. Die Industrialisierung und ihre Folgen drangen immer tiefer in das alltägliche Leben vor. Neue Industriezweige wie die Elektrotechnik und die Pharmazie entstanden, Verkehr und die Lebensmittelbranche gewannen an Bedeutung.

Der Simplonexpress in Brig im Jahr 1914 mit einer Lokomotive der BBC, deren Stromabnehmer eigens für den Simplontunnel umgerüstet wurde.
Der Simplonexpress in Brig im Jahr 1914 mit einer Lokomotive der BBC, deren Stromabnehmer eigens für den Simplontunnel umgerüstet wurde.
(Bild: Historisches Archiv ABB Schweiz, N.1.1.3828)

Basierend auf der Buchreihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik» stellen wir ausgewählte Pioniere und deren Werke vor, die das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben vor 120 Jahren bewegten, als auch der SMM als ein wichtiges Fachmagazin gegründet wurde, in dem Techniker, Konstrukteure und Ingenieure über Neuheiten berichteten sowie ihre Erkenntnisse und Erfahrungen austauschten.

Paris 1900

Bereits zum fünften Mal fand eine Weltausstellung in der damals grössten Metropole der Welt statt – und sie übertraf alles Bisherige. Rund 50 Millionen Menschen aus aller Welt besuchten das über 200 Hektaren grosse Ausstellungsgelände. Unter dem Motto «Bilanz eines Jahrhunderts» wurden die grössten Errungenschaften der vergangenen Jahre und Jahrzehnte gezeigt. Schwerpunkt waren aber die Weltneuheiten wie der Dieselmotor oder ein elektrischer Ofen. Denn die Weltausstellung war eine Leistungsshow, an der sich die Industrienationen konkurrierten. In Paris wurde gezeigt, was die Leute damals bewegte.

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Der Schweizer Eiffelturm

Auch die Schweiz war in Paris vertreten. Einmal ganz unauffällig beim auffälligsten Bauwerk, dem Eiffelturm. Dieser wurde elf Jahre zuvor als Eingangsportal für die vierte Weltausstellung 1889 erbaut. Sowohl die ersten Skizzen als auch die Konstruktionsberechnungen stammten dabei vom Schweizer Maurice Koechlin (1856–1946), der sie als Chefingenieur der Konstruktionsfirma Gustave Eiffel anfertigte. Eiffeltürme oder ähnliche Prunkbauten sucht man in der Schweiz vergebens. Doch es gibt sie auch bei uns, die markanten und allseits bekannten Bauwerke aus jener Zeit. Erwähnt seien hier das 1898 eröffnete Landesmuseum und das Parlamentsgebäude, das als Vollendung des Bundeshauskomplexes 1902 nach achtjähriger Bauzeit eingeweiht wurde.

Es ward Licht und der Wasserfall rauschte

Im Unterschied zu 1889 wurde der Eiffelturm an der Weltausstellung 1900 mit hunderten modernster Glühbirnen illuminiert. Diese und andere Lichtshows faszinierten Laien und Fachleute gleichermassen. Die Faszination war aber nicht allein dem Spektakel geschuldet. Denn die Elektrizität revolutionierte die damalige Wirtschaft und bewegte die damalige Gesellschaft wie kaum ein anderer Wirtschaftsbereich. Beispielhaft zeigte sich das am 25. August 1891, als es zum ersten Mal gelang, Strom effizient über weite Strecken zu transportieren. Verantwortlich dafür war ein junger Ingenieur namens Charles Eugen Lancelot Brown (1863–1924). Bereits mit 22 Jahren übernahm Brown junior die Leitung der elektrotechnischen Abteilung der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) von seinem Vater. Von ihm hatte er auch die technische Genialität geerbt, die ihn zu einem der kreativsten und produktivsten Ingenieure der Schweiz machte. Die Hauptattraktion der Ausstellung in Frankfurt sollte ein künstlicher Wasserfall und tausend Lichter sein, die mit Strom aus 175 Kilometer Entfernung versorgt werden sollten. Alle deutschen Firmen standen dem Vorhaben ablehnend gegenüber, weshalb die MFO angefragt wurde. Brown konstruierte den Generator und die Transformatoren, um die Energie als dreiphasigen Wechselstrom mit 15 000 Volt zur übertragen. Für den Leitungsbau war die deutsche AEG zuständig. Am Ende arbeitete die gesamte Anlage mit einem für damalige Verhältnisse sensationellen Wirkungsrad von 75 Prozent. Brown verhalf damit dem Wechselstrom zum Durchbruch und eröffnete sich selbst neue Tätigkeitsfelder. Mit seinem Compagnon Walter Boveri (1865–1924) gründete er bald darauf die Brown, Boveri & Cie. (BBC), die zahlreiche Pionierleistungen später mit der schwedischen Asea zur heutigen ABB fusionierte.

Geschichte kennen, Entwicklung bewerten
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Seit dem Jahr 1950 publiziert der Verein für wirtschaftshistorische Studien die Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik». Die bislang 115 erschienen Bände bieten gleichsam eine «Tour d’Horizon» der Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Pro Jahr erscheinen rund drei neue Publikationen, die im Buchhandel und im Eigenverlag erhältlich sind. Die Mitglieder des Vereins erhalten sämtliche Neuerscheinungen gratis. Zusätzlich profitieren sie von attraktiven Buchvernissagen mit namhaften Referenten aus der Schweizer Wirtschaft. Es lohnt sich also, Mitglied beim Verein für wirtschaftshistorische Studien zu sein. Wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft besser einschätzen.

Weitere Informationen: pioniere.ch

Die Elektrifizierung der Eisenbahn

Die Elektrotechnik war Grundlage für ein Projekt, bei dem die Schweiz als Ganzes eine Pionierrolle einnahm: die Elektrifikation der Eisenbahn. Nachdem schon in den 1880er Jahren die ersten elektrischen Strassenbahnen verkehrten, so 1888 auf der Linie Vevey–Montreux–Chillon, konnte 1899 mit der Burgdorf-Thun-Bahn die erste elektrische Vollbahn Europas in Betrieb genommen werden. Damit wurde zum ersten Mal die Herausforderung grosser Streckenlängen für die elektrische Traktion in der Praxis gemeistert. Eine abenteuerliche Pionierleistung stellte nur kurz später die Elektrifizierung des Simplontunnels dar. Der Bau des damals längsten Tunnels der Welt war an sich eine grosse Pionierleistung, doch der Bau war in Zeitverzug. In dieser Situation wurde rund ein halbes Jahr vor Inbetriebnahme die Elektrifizierung beschlossen. Entscheidend dafür war, dass die BBC sämtliche Kosten der Installationen übernahm und sich verpflichtete, die ganze Anlage wieder zurückzubauen, falls die SBB nicht zufrieden sein sollten. Die Badener waren aber nicht die Einzigen, die bei diesem Projekt mit hohem Risiko Pionierleistungen erbrachten. Für den Leitungsbau konnten sie Hermann Kummler-Sauerländer (1863–1949) gewinnen. Seine Arbeiten wurden dadurch erschwert, dass er den anderen Bauarbeitern im Tunnel jederzeit die Durchfahrt gewähren musste. So mussten die Gerüste immer wieder demontiert werden, wenn Bauzüge passierten. Für den Einzug der Leitungen wurde das Zeitfenster auf 36 Stunden begrenzt. Doch Kummler-Sauerländer war bereits nach 30 Stunden fertig. Auch die anderen Arbeiten konnten gemäss Plan – so unsicher er auch war – ausgeführt werden, sodass die Elektrifizierung des Simplontunnels zu einem Leuchtturmprojekt wurde.

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Technischer Fortschritt durch Wasserreichtum

Vor 1891 wurden die Kraftwerke mangels Übertragungsmöglichkeiten unmittelbar bei den Verbrauchern gebaut. Das erste (Klein-)Kraftwerk der Schweiz diente ab 1879 zur Beleuchtung des Speisesaals im Kulm Hotel St. Moritz des Hotelpioniers Johannes Badrutt (1819–1889) mit bescheidenen 7 kW Leistung. Entscheidend war dann der Schritt zu grossen Kraftwerken, die dezentral an den wasserreichen Flüssen erstellt werden konnten. Als erstes dieser Art in ganz Europa ging 1898 das Kraftwerk Rheinfelden ans Netz. Die Planung übernahmen Olivier Zschokke (1826–1898) und der deutsche Wasserbauprofessor Otto Intze (1843–1904). Die Bauleitung wurde Conradin Zschokke (1842–1918) übertragen, einem frühen Pionier des Wasserbaus in der Schweiz. Seine Karriere steht beispielhaft für die Technikpioniere um 1900. Nach einem Studium an der ETH sammelte er reiche Erfahrung bei ausländischen Unternehmen, wobei er schnell in leitende Positionen aufstieg. Zurück in der Schweiz gründete er ein eigenes Unternehmen und nutzte die sich bietende Gelegenheit, mit dem Bau von Flusskraftwerken spannendes und zukunftsreiches Neuland zu betreten. Mit diesem Erfahrungsschatz war er auch für die Wissenschaft interessant, was sich in seiner Berufung zum Professor an der ETH widerspiegelt.

Schiffbau auch ohne Meeranschluss

Dass Schweizer beim Bau von Wasserkraftwerken eine Pionierrolle einnahmen, erscheint aufgrund der topographischen Verhältnisse naheliegend. Eine Eigenart der Schweizer Wirtschaft war es aber, dass sie auch in Industrien Bedeutung erlangte, in denen sie offensichtliche Wettbewerbsnachteile hatte. Ein Beispiel dafür ist der Schiffbau. Dank des Erfindergeists und Tatendrangs vom bereits erwähnten Charles Brown senior (1827–1905) stieg der Dampfmaschinenbau bei Sulzer zur Weltklasse auf, bald wurden auch ganze Dampfschiffe gebaut. Während Vater Brown nach zwanzig Jahren bei Sulzer die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik SLM gründete und schliesslich zur MFO wechselte, wurde der Schiffbau bei Sulzer weiterforciert. Dank der Zusammenarbeit mit Rudolf Diesel (1858–1913) konnte Sulzer 1897 den ersten Prototyp eines Dieselmotors präsentieren, die erstmalige Auslieferung erfolgte 1903. Erfolg und Weiterentwicklung gingen fortan Hand in Hand, sodass in den 1970er Jahren jedes fünfte Schiff auf den Weltmeeren mit einem Sulzer-Dieselmotor lief.

Ein süsses Hustenmittel

Generatoren, Elektroloks, Dampfmaschinen: In der Tat verzeichnete die Maschinenindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das grösste Wachstum aller Wirtschaftsbereiche in der Schweiz und beschäftigte nach der Textilindustrie am zweitmeisten Personen. Doch auch in anderen Bereichen tat sich einiges. Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war ein Pionier-Jahrzehnt sondergleichen. Das widerspiegelt sich noch heute im SMI. Von den zwanzig dort gelisteten Unternehmen haben fünf ihren Ursprung in den 1890er Jahren. Es sind dies Julius Bär, Givaudan, Lonza, ABB (damals als BBC) und Roche. Besonders öffentlich wirksam war dabei Letzteres. Der eigenwillige Firmengründer Fritz Hoffmann-La Roche (1868–1920) brachte 1898 ein neues Medikament auf den Markt, ein rezeptfreies Hustenmittel namens Sirolin. Der Clou war einerseits, das hauseigene und bittere Tuberkulosemittel «Thiocol» durch Beimischung von Orangenaroma zu versüssen. Andererseits setzte Roche stark auf die Werbung als Mittel. Und Marketing konnte schon damals entscheidend sein. Das hatten vor ihm bereits Philippe Suchard (1797–1884) und Henri Nestlé (1814–1890) bewiesen.

«Nicht besser, aber länger»

Sirolin wurde über sechzig Jahre lang erfolgreich verkauft. Ein anderes Produkt mit fast gleichem Jahrgang hat sogar bis heute überlebt, getreu seinem heutigen Werbespruch «nicht besser, aber länger». Die Rede ist von der Ovomaltine, mit der Albert Wander (1867–1950) um die Jahrhundertwende tüftelte. Der junge Apotheker und Chemiker übernahm mit knapp 30 Jahren das «chemisch-technische und pharmaceutische Laboratorium» nach dem Tod seines Vaters und baute es zu einem Weltkonzern mit über 3000 Mitarbeitern aus. Einen wesentlichen Anteil am Erfolg hatte die Ovomaltine, die die bestehenden Malzprodukte der Firma mit hochwertigen und bekömmlichen Zutaten wie Milch, Ei und Kakao kombinierte. Aber auch die Ovomaltine verkaufte sich nicht von selbst, die offensive Werbung ist nicht neueren Datums. Die Botschaft dahinter blieb ebenfalls 120 Jahre lang dieselbe: Ovomaltine kräftige und sei gesund. Man bedenke aber, dass diese Botschaft in Anbetracht der damals weitverbreiteten Mangelernährung und der damit verbundenen Gebrechen eine andere Bedeutung hatte.

Das Schweizer Dorf in der Weltmetropole

Betrachtet man die Etikette der ersten Ovomaltinebüchse, so fallen die beiden Bilder auf. Das eine zeigt in imperialistischer Weise eine Kakaoernte, während auf dem anderen eine Milchkuh auf der Alp­weide zu sehen ist. Beides waren typische Klischees jener Zeit, wobei das idealisierte Bild der Alpenwelt für die Schweiz von grösster Bedeutung war. Es diente nicht nur der Ovomaltine und der Schokolade als Werbesujet, sondern insbesondere auch dem Tourismus, der um 1900 in ungeahnten Dimensionen wuchs. Da waren die Touristenbahnen, von der Rigi-Bahn 1871 bis zur Jungfraubahn 1912, die eine nach der anderen die schönsten Aussichtspunkte erklommen. Daselbst schossen Hotels wie Pilze aus dem Boden. Zunächst bescheidene Unterkünfte, dann geräumige Hotels und schliesslich nach 1900 eigentliche Palastbauten, in denen vornehmlich ausländische Noblessen residierten. 1898 beispielsweise weilte Prinzessin Sissi im Grand Hôtel im waadtländischen Kurort Caux. Zusammen mit ihrer Entourage belegte sie gleich ein ganzes Stockwerk des noblen Hotels.

Die Schweiz als Alpenland war also schon damals eine Attraktion – auch an der Weltausstellung in Paris 1900. Dort nämlich sorgte das «village suisse» für Aufmerksamkeit. Gezeigt wurden hier nicht die industriellen Errungenschaften, sondern die ländliche Idylle eines Bauerndorfes mit traditionellen Restaurants und Nachahmungen der Tellsplatte oder des Gornergrats.

Literatur und Quellen

Leben und Wirken der hier erwähnten Pioniere werden in folgenden Publikationen dargestellt. Herausgeber ist jeweils der Verein für wirtschaftshistorische Studien, Zürich.

  • Lang, Norbert: Charles E. L. Brown und Walter Boveri, Bd. 55, 2. Aufl. 2000
  • Latscha, Werner / Wägli, Hans G. / Waldis, Alfred / Wismann, Hans: Pioniere der Eisenbahn-Elektrifikation, Bd. 77, 2. Auflage 2009.
  • Kleiner, Beat: Hermann Kummler-Sauerländer, Bd. 71, 3. Aufl. 2009.
  • Ders.: Simplontunnel 1906, Sonderpublikation, 2006.
  • Ruf, Susanna: Fünf Generationen Badrutt, Bd. 91, 2011.
  • Schnitter, Niklaus / Vischer, Daniel: Conradin Zschokke, in: Drei Schweizer Wasserbauer, Bd. 53, 1991.
  • Labhart, Walter: Johann Jacob Sulzer-Hirzel und Salomon Sulzer-Sulzer, Bd. 40, 1999.
  • Wanner, Gustav A.: Fritz Hoffmann-La Roche, in: Zwei Basler Pioniere, Bd. 24, 1971.
  • Edlin, Christa: Philippe Suchard, 3. Aufl. Bd. 56, 2009.
  • Schmid, Hans R.: Henri Nestlé, in: J.J. Sulzer, H. Nestlé, R. Stehli-Hausheer, C. F. Bally, J. R. Geigy-Merian, Bd. 2, 1955.
  • Thut, Walter: Vom Zwei-Mann Labor zum Weltkonzern. Georg Wander, Albert Wander, Georges Wander, Bd. 79, 2005.

Weitere verwendete Literatur:

  • Jung, Joseph: Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 2019.
  • HLS online (verschiedene Artikel)
  • Trautz, Martin: Maurice Koechlin – der eigentliche Erfinder des Eiffelturms, unter: https://trako.arch.rwth-aachen.de/cms/TRAKO/Forschung/Bautechnikgeschichte/~mmso/Maurice-Koechlin-der-eigentliche-Erfin/
  • Schmid, Hans R.: Ausklang eines Jahrhunderts. Die Pariser Weltausstellung von 1900 und die Schweiz, in: NZZ 29.10.1950.
  • Kaeser, Fritz: Die Schweiz an der Pariser Welt­ausstellung 1900, in: Mitteilungen über Textilindustrie 7 (1900), 18. SMM

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